Chemiewaffen im Garten

Der Einsatz chemischer Waffen ist ja glücklicherweise geächtet und gilt als Kriegsverbrechen. Unter Menschen. Über den Einsatz chemischer Kampfmittel in der Landwirtschaft wird aktuell leidenschaftlich gestritten. In der freien Natur dagegen ist er ein weit verbreitetes Mittel zur Selbstverteidigung.

Wahr ist: Mein ganzer Garten ist voller Gift- obwohl ich mich entschieden habe, meine Mitbewohner nicht mit Hilfe synthetischer Kampfstoffe in ihre Schranken zu weisen, obwohl es manchmal verlockend erscheint. 

Säureattacken am Spielfeldrand

Die Fünfjährige wurde kürzlich Opfer einer Giftattacke, als sie ihren Fußball aus dem Wildwuchs hinter der Gartenhütte bergen wollte. Urtica dioica, vielleicht auch Urtica urens, also die Große und Kleine Brennnessel, injizieren ihr Gift schon bei leichter Berührung aus hunderten Mikronadeln in die Haut. Die Brennhaare bestehen aus einzelligen Ampullen mit einer Sollbruchstelle am Köpfchen. Das kieselsäurehaltige Material ist spröde wie dünnes Glas und ritzt winzige Verletzungen in die oberste Hautschicht, bevor der Inhalt der geköpften Röhre mit Druck verteilt wird. Das Gemisch besteht unter anderem aus brennender Ameisensäure und mehreren Neurotransmittern, also Nervenbotenstoffen wie Serotonin, Acetylcholin und Histamin, dessen Name dem ein oder anderen vielleicht schon mal im Zusammenhang mit allergischen Reaktionen untergekommen ist. Das erklärt die beeindruckenden Quaddeln, die eine Berührung mit Urtica hinterlässt. Diese Reaktion hat übrigens dem Symptom der „Nesselsucht“ den Namen gegeben, also Hautausschlägen unterschiedlicher Ursache.

Ameisensäure erhielt ihren Namen dagegen als John Ray (englischer Theologe UND Naturforscher, war damals noch kein Widerspruch 😉 )1671 diese kürzeste Carbon- Säure tatsächlich aus Ameisen isolierte. Chemiker sagen stattdessen Methansäure. Viele Insekten und auch Quallen nutzen die ätzenden Eigenschaften für ihre Zwecke. Für Insekten ist so ein Methansäurenebel nämlich tödlich.

Friss und stirb!

Die meisten Gifte im Garten werden überhaupt nicht verspritzt oder injiziert. Sie schlummern als Fraß-Schutz in ihren Besitzern. Das unschuldig wirkende Maiglöckchen (Convallaria majalis) enthält allein 38 verschiedene, giftige Glucoside, die schlimmstenfalls lebensgefährlich in die Steuerung unseres wichtigsten Muskels eingreifen.  (Man muss dazu aber mehr als fünf Beeren oder größere Mengen Blätter essen.) Solche „Herzglycoside“ finden sich auch in Fingerhut (Digitalis), der sogar zur Produktion von Herzmedikamenten angebaut wird. „Heilpflanzen“ sind nicht immer sanft oder harmlos.

Rittersporne (Delphinium) enthalten giftige Alkaloide, Christrosen (Helleborus) Saponine und die hübsche Herbstzeitlose (Colchicum autumnale) das Gift Colchicin, das ähnlich wie Arsen wirkt. Eibe (Taxus), Stechapfel (Datura), Goldregen (Laburnum), Oleander (Nerium oleander), Eisenhut (Aconitu) und einige mehr sind als potentieller Kindervergifter allgemein bekannt, es passiert daher glücklicherweise selten Schlimmes mit ihnen. Hier gibt es eine amtliche Broschüre mit Fahndungsfotos der giftigsten Gartenbewohner.

Keine nackte Haut für Fremde

Ich persönlich ließ mich in meinem neuen Garten gleich zu Beginn von der mir damals unbekannten Walzenwolfsmilch (Euphorbia myrsinites) vergiften. Während ich arglos – und wie so oft ohne Handschuhe – ihre Ausläufer aus der Einfahrt schnitt, lief mir der weiße Milchsaft über die Haut. Bis heute ist kaum erforscht, was alles darin ist, zum Beispiel Terpene wie das Ingenol-Mebutat, das derzeit eine Karriere als Arzneimittel anstrebt. Als meine Haut reagierte, versuchte ich den zähflüssigen Saft mit Wasser und Seife abzuwaschen, aber er verfestigte sich nur zu einer erstaunlich stabilen Latex-Schicht. Ich hatte eine unruhige Nacht und eine Erfahrung gewonnen. (Und nebenbei Glück gehabt, dass mir der ätzende Saft beim Schneiden nicht in die Augen gelangt war.) Sobald unsere Kinder die Einfahrt mit dem Bobbycar eroberten, musste die Walzen-Wolfsmilch, welche im US-Bundessaat Colorado als meldepflichtiges Unkraut gilt, erstmal weichen. Nun erobert sie ihren Garten zurück, aber der Nachwuchs ist inzwischen bezüglich der Gefährdungslage im heimischen Garten einigermaßen geschult.

Stark ist, wer die Schwachen schützt

Wenn ohnehin so viel Gift zirkuliert, könnte ich doch vielleicht wenigstens meine Hochbeete mit einigen – rein defensiv ausgestreuten- Schneckenkörnern beschützen, befand ich im letzten Frühsommer, nachdem ganze Generationen von sorgsam gepflegten Möhrchen und Pflücksalatreihen durch maßlose Gastropoden verschlungen worden waren. Ich kaufte also Schneckenkorn. Ich schärfte den Kindern ein, es ja nicht zu berühren und hatte trotzdem ein schlechtes Gefühl dabei, weil bei Vierjährigen manchmal die Neugierde über den Verstand siegt.

Bei meinem nächsten Besuch am Hochbeet verwesten Nacktschneckenleichen auf getrockneten Schleimbetten zwischen meinem Gemüse. Das war unappetitlich und sah grausam aus. Das allwissende Internet verriet mir, die Schnecken stürben recht langsam am enthaltenden Gift Metaldehyd, welches auch für Vögel und Säugetiere toxisch ist. Insgesamt schien mir dieser verheerende Schlag keine gerechte Strafe für einen Mundraub, zumal man bei einem Weichtier ohne „richtiges“ Gehirn wohl schuldmindernde Unzurechnungsfähigkeit annehmen muss. Da aus den gleichen Gründen Verhandlungen über ein Friedensabkommen unrealistisch erschienen, entschied ich mich für eine einseitige Abrüstung sämtlicher Chemiewaffen und verteidige mein Gemüse seitdem wieder konventionell und mit mäßigem Erfolg. Glücklicherweise muss ich mit den Mitbewohnern meines Gartens nicht ums Überleben kämpfen, weil der örtliche Laden zu Not Ersatzruccola anbietet. Da kann ich mir ein wenig Großzügigkeit gegenüber dem Feind leisten und muss keine Kollateralschäden in Kauf nehmen, wie sie bei Gifteinsätzen unvermeidlich sind.

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