männliche Haselblüte

Boten des Wandels

Bei sonnigem Wetter ziehen die ersten Kranichtrupps (Grus grus) schon ab Mitte Februar über den Garten, ein Schauspiel, das auch ornithologisch desinteressierte Menschen veranlasst, den Kopf in den Nacken zu werfen und in den Vorfrühlingshimmel zu lächeln – der Winter ist vorbei! Zur gleichen Zeit blüht im Garten der große Haselstrauch (Corylus avellana) und sobald es sonnig wird, sind seine pollenreichen Kätzchen von Hummeln und Bienen umschwärmt.

Die Haselblüte gilt dem Deutschen Wetterdienst als phänologischer Marker für den einsetzenden Vorfrühling und wird seit Jahrzehnten akribisch dokumentiert. Deswegen können die Experten anhand ihrer Daten feststellen: Für die heimische Natur wird der Winter kürzer. Die Haselblüte wird im Mittel der letzten 30 Jahre einen halben Monat eher beobachtet als im Mittel der 30 Jahre zuvor (also 1961-1990). Auch die Kraniche überfliegen uns immer früher, wie ein Ornithologenpaar aus dem nahen Schwerte über Jahrzehnte dokumentiert hat.

Über die unüberschaubaren und unberechenbaren Auswirkungen des Klimawandels auf die Natur (auch direkt vor unserer Haustür) wird an anderer Stelle kompetenter diskutiert. Mir hat die Zusammenfassung von Bernhard Kegel sehr gefallen. Seit ich versuche, die von mir getroffenen Mitbewohner mit Namen anzusprechen, habe ich bereits den ein oder anderen Klimawanderer gefunden. Der Klimawandel ist da, die Vorhut bilden Insekten. Ich habe aber beschlossen, die neuen Mitbewohner nicht auf die schlechten Nachrichten zu reduzieren, die sie eigentlich bringen – sondern ihre Anwesenheit als Bereicherung zu sehen. In einschlägigen Facebook-Gruppen zur Insektenbestimmung fragen Menschen aus ganz Deutschland nach Gottesanbeterinnen, blauen Holzbienen, Wespenspinnen und dem Taubenschwänzchen – alles wärmeliebende Arten, die erst in den letzten Jahrzehnten ihr Wohngebiet bis zu uns ausgedehnt haben. Letzteres konnte ich einmal am Lavendel beobachten. Ich werde mich an den anderen spektakulären Klimawanderern erfreuen, wenn sie „An der alten Mühle“ ankommen.

Wanze im Schlafanzug

Die Streifenwanze (Graphosoma lineatum) mag Doldenblütler, im Garten beispielsweise Möhre, Dill oder Fenchel. Sie hat ihr Wohngebiet in den letzten Jahren in nördliche Richtung ausdehnen können.

Streifenauge

Diese Fliege (Stomorhina lunata) hat ihre Heimat in Afrika und noch keinen deutschen Namen, dafür aber spektakulär gemusterte Augen.  In ihrer Heimat hilft sie, die Heuschreckenpopulation in Schach zu halten (ihr Nachwuchs frisst Heuschreckengelege). 

Autofahrer

Die nachtaktive Südliche Eichenschrecke (Meconema meridionale) ist ebenfalls aus dem Süden eingewandert – als blinder Passagier mit dem Auto. Flügel hat sie nämlich nicht. Milde Temperaturen und warme Sommer haben ihr geholfen, in unseren Gärten heimisch zu werden.

Ein anderer phänologischer Marker in unserem Garten ist die Blattentfaltung der Buche (Fagus sylvatica). Die Herrscherin des Gartens beginnt als letzter unserer Bäume damit, ihre Krone zu begrünen. In den Buchenwäldern Nordrhein-Westfalens wurde ein Trend zu früherem Blattaustrieb bei Rotbuchen beobachtet – aber unsere Majestät beschneit den Kaffeetisch zu Matzes Geburtstag am 20. April zuverlässig jährlich mit ungezählten Spelzen – und zwar unabhängig davon, ob bereits sommerliche Temperaturen oder nasskaltes Aprilwetter herrschen. Dafür gibt es einen Grund: Eher als um den 20. April kann die Buche nicht austreiben – sie braucht mindestens 13 Stunden Tageslicht dafür. In Matzes Geburtsjahr lag ihr Austriebstermin im Mittel dagegen eher Anfang Mai. Während meine Primeln also schon im November blühen und die Marienkäfer bereits im Februar den Heiratsmarkt eröffnen, wird die Buche den Erstfrühling weiterhin erst zur Geburtstagsfeier eröffnen- sie hat damit ihr Flexibilitätsspanne schon ausgeschöpft.

Die Blüte des Scharbockskraut gilt als phänologischer Marker für den Erstfrühling, der dem Vorfrühling folgt.

Welche Veränderungen auf meine Mitbewohner aufgrund steigender Temperaturen zukommen, ist schwer vorauszusagen. In unseren Breiten werden die Veränderungen des Klimas derzeit allerdings weit übertroffen von den direkten menschlichen Eingriffen in die Lebenswelten der heimischen Tier- und Pflanzenwelt. Flächenverbrauch, Pestizideinsatz und Flurbereinigung beispielsweise haben am Artensterben bei uns derzeit einen größeren Anteil als der Klimawandel. Dazu noch eine Zahl aus einer Naturdokumentation des Tierfilmers Jan Haft: 17 Millionen Gärten in Deutschland haben eine größere Fläche als alle Naturschutzgebiete zusammen! Auch wenn ein Garten keine ökologische Nische für seltene Spezialisten bietet, kann er ein wertvoller Lebensraum sein, wenn man ihn lässt. Auch häufige Arten brauchen Raum, und nur bei ausreichend hohen Individuenzahlen ist die genetische Variabilität groß genug, damit die Populationen sich an veränderte Bedingungen anpassen können. Round-up, Schottergärten und totgepflegte Beete mit Baumarktblumen können wir uns in diesen Zeiten des Wandels einfach nicht mehr leisten.  

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