Im Netz der Spinne

Spinnen finden viele gleichzeitig eklig und irgendwie spannend, beispielsweise im Vergleich zu Fliegen oder Würmern. Ihre vielen Augen, ihr Gift, ihre teils absonderlichen Sexualpraktiken – und natürlich ihre Netze haben Phantasie und Neugier der Leute schon immer angeregt. Wissenschaftlich heißen Spinnen „Arachnida“ und tragen damit den Namen ihrer sagenhaften Urmutter mit sich herum: Arachne soll eine Meisterweberin der Antike gewesen sein, der ihr Ruhm etwas zu Kopf gestiegen war, was sie veranlasste die Göttin Pallas (Athene) herauszufordern. Soweit, so vermessen, aber sie hatte auch noch die Frechheit, die Göttin im Wettstreit mit einem geradezu göttlichen Webstück zu schlagen, worauf Pallas die Sterbliche in eine Webspinne verwandelte. Tja. FÜR diese Version der Spinnenevolution spricht vielleicht, dass Radnetze tatsächlich hauptsächlich von weiblichen Spinnen gewoben werden – die Männchen sterben nämlich bald nach der letzten Häutung und brauchen in ihrer letzten Lebensphase nicht mehr viel zu essen.

Garten Kreuzspinne (Araneus diadematus) in Drohhaltung

Sie sind nie weit entfernt!

Im Herbst hat man manchmal das Gefühl, die Spinnenpopulation würde explodieren – überall (vor allem im Haus) trifft man plötzlich achtbeinige Mitbewohner. Im letzten Jahr machte ich eine besonders beeindruckende Halloween-Bekannschaft. Wissenschaftler halten dagegen, die Spinnendichte sei im Herbst nicht höher als sonst, nämlich 130 Spinnen pro Quadratmeter Wiese. (Macht 1,3 Mio. Spinnen pro Hektar, die auf dieser Fläche etwa 50.000 kg Insekten verspeisen!). Insgesamt fressen alle Spinnen der Welt mehr Fleisch als alle Menschen. Dazu müssen sie jagen – denn Spinnen sind Raubtiere.  Damit sind wir wieder bei den Netzen und ihrem High-Tech-Material: Spinnenseide lässt Werkstofftechnologen vor Neid erblassen.

Eine Spinne im Baldachinnetz

Am seidenen Faden
Spinnenfäden sind ultraleicht, extrem reißfest und dabei außerordentlich elastisch. Der Lauffaden einer Gartenkreuzspinne ist deutlich leichter als Nylon, dabei aber doppelt so dehnbar. 3 g Spinnenseide reichen um unsere Heimatstadt Unna mit Köln zu verbinden, wofür wir in den letzten Ferien mit dem Zug anderthalb Stunden gebraucht haben.

Nach einer Frostnacht sieht das Radnetz aus wie gehäkelt.
Ein Trichternetz. Hier wird viel mehr Seide benötigt als für das hocheffiziente Radnetz.

Der Faden ist dabei so dünn, dass er eigentlich unsichtbar ist, zumindest für unsere Augen, deren Auflösung mindestens 25 Mikrometer Durchmesser erfordert. Arachnes Faden sind aber nur 0,15 Mikrometer dick. Die Frage, warum wir uns trotzdem an ihren kunstvollen Netzen erfreuen können, hat die Wissenschaftlerinnen lange beschäftigt. Zum einen reflektiert der Faden Licht, und diese Reflektion ist quasi „breiter“ als der Faden selbst. Zusätzlich wirft die Seide ankommendes, für uns unsichtbares UV-Licht als sichtbares Licht zurück. Wenn Tau oder Wassertropfen im Netz hängen, trägt das natürlich erst recht auf.

Die Vierpunkt-Springspinne (Attulus pubescens) bei der Paarung an der warmen Hauswand.
Die Zebraspringspinne (Salticus scenicusist) spinnt ein Sicherungsseil, mit dessen Hilfe sie sich nach dem wagemutigen Sprung auf ein potentielles Opfer jederzeit zurück katapultieren kann.

Seile, Segel, Fangspirale
Zusätzlich sind die Spinnenfäden mit einem Konservierungsmittel (etwa gegen Pilzbefall) beschichtet. Die Spinnen können verschiedene Fadentypen herstellen, deren mechanische Eigenschaften sich unterschieden. Es gibt besonders reißfeste Fäden zum abseilen, Rahmenfäden fürs Netz, und Klebefäden für die Fangspirale, die insgesamt besonders elastisch sein muss, damit sie nicht reißt, wenn ein „Dicker Brummer“ hineinrast. Andere Fäden sollen einen festen, schützenden Kokon für die Eier ergeben oder eine Art Segel, mit dem die Jungspinnen sich nach der ersten Häutung vom Wind zu neuen Ufern verwehen lassen. Anne Sverdrup-Thygeson schreibt in ihrem großartigen Buch vom „Kitesurfing“ der Jungspinnen. Die im „Altweibersommer“ in der Landschaft verstreuten „Spitzendeckchen“ aus Spinnennetzen sind die Segelfäden tausender Jungspinnen.

Die Gewächshaus-Mondspinne (Parasteatoda tepidariorum) hat ihre Cocons im Gartenhaus aufgehängt.

Laborgestützte Produktspionage

Spinnenseide in ihren unterschiedlichen Ausprägungen ist also ein phantastisches Material, das entsprechende Begehrlichkeiten geweckt hat und intensiv erforscht wird. Die NASA ließ Spinnen ihre Netze in der Schwerelosigkeit des Alls bauen (klappte ganz hervorragend), in den 70ern setzte man Spinnenweibchen auf Drogen und stellte fest, dass die Netzstruktur ab einer gewissen Dosis litt. (Koffeinnetze sehen tatsächlich aus, als hätte ein Betrunkener versucht zu häkeln.) Der genaue Mechanismus, mit dem die Spinne ihre Seide aus den verschiedenen Spinnendrüsen entnimmt ist immer noch nicht geklärt, damit bleibt es schwierig, aus den inzwischen identifizierten Proteinen auch wirklich einen Faden herzustellen. Spinnen kann man auch nicht einfach wie Seidenraupen züchten (sie schrecken vor Kannibalismus nämlich nicht zurück), außerdem lassen sie sich auch schwer „melken“. Trotzdem hat man bereits Violinenseiten, extrem teure Kleidung und medizinische Materialen (Nähfaden, Wundverschluss) aus Spinnenseide hergestellt. Inzwischen kann man die entsprechenden Proteine biotechnologisch herstellen, etwa indem man die Gene der Gartenkreuzspinne in E. coli-Bakterien einbaut. Eine Firma aus München kann daraus bereits Fasern herstellen. (Wer mehr über Spinnenseide und –Netze lesen möchte, findet hier eine sehr sorgfältige Zusammenfassung.


Mit meinem neu erworbenen Wissen betrachte ich die Töchter Arachnes nicht unbedingt mit mehr Sympathie, aber größerem Respekt.  Gleichzeitig werde ich demnächst weniger rücksichtsvoll sein, wenn ein Radnetz ein Fenster blockiert: Die Besitzerin kann es jederzeit vor Tagesanbruch neu errichten. Ein beschädigtes Netz würde sie einfach fressen – und die wertvollen Aminosäuren der Spinnenseide so zu 100 Prozent recyceln. Ganz offensichtlich haben wir von den Spinnen noch viel zu lernen.

Der Nachwuchs der Listspinne (Pisaura mirabilis) residiert im Buchsbaum.

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