Gestresste Eltern

Nun haben wir Coronaferien und „Social Distancing“ statt unserer traditionellen Frühlings-Amelandwoche. Wir sitzen zwangsweise zusammen im Garten, hören den Gesprächen der Nachbarn zu oder lauschen ihren Hochdruckreinigern, Kreissägen und Rasenmähern anstelle von Brandung, Wind und Möwengezeter. Unsere Mitbewohner sind auch gestresst: Unsere permanente Anwesenheit in IHREM Garten geht der saisonbedingt vielbeschäftigten Vogelwelt sichtlich auf die Nerven. Längst haben sie aufgehört, jedesmal Warnrufe auszustoßen, wenn wir uns begegnen. Die Meisen sitzen uns beim Kaffeetrinken schon fast auf der Schulter und die Ringeltauben koten mit einer Penetranz auf die Terrassenbohlen, die eine gezielte Provokation nahe legt….

Mein besonderes Mitleid in der häuslichen Zwangsisolation gilt ja Menschen mit Teenagern als Mitbewohnern. In diesem Zusammenhang fand ich interessant, was ich kürzlich über Meisen las: Sie kommen quasi in jedem Frühling in die Pubertät!

Meisen auf Hormonen

Das Nest baut die Meisenmutter allein

Das Tageslicht gibt das Startsignal. Daraufhin steuern Hormone, die unseren Geschlechtshormonen ganz ähnlich sind, größere Umbauarbeiten im Meisenhirn. Die Geschlechtsorgane machen eine erstaunliche Entwicklung durch: Die Hoden des Kohlmeisenhahns werden 4 mal länger und 20 mal schwerer als zuvor. Wenn man das auf den Menschen umrechnet – nee- lassen wir das. Solche Monsterklöten will sich ja niemand vorstellen.

Er guckt nur zu

Auch im Organismus der Weibchen werden die Prioritäten neu sortiert: Kohlmeisen legen sehr viele Eier, etwa 8-10 in einem Gelege (Der Rekord soll bei 18 liegen, aber das ist umstritten). So ein Ei wiegt 1,7 Gramm, die Mutter vielleicht 18 Gramm – sie produziert also an 10 aufeinanderfolgenden Tagen jeweils 1/10 ihres Körpergewichtes als Ei. Wer da als Mutter mithalten will, müsste etwa 10 je  6 kg schwere Kinder an aufeinanderfolgenden Tagen gebären – und das jedes Jahr. Da wirken meine 2 x 3 kg Mensch im ganzen Leben doch eher kümmerlich!

Familienernährung als Hochleistungssport

Und dann die Fütterung! Derzeit müssen hier zwei ganze und zwei halbe Menschen mehrmals täglich essen, und meine Einkaufstouren vermitteln den Eindruck wir wären unter die Prepper gegangen. Einen 2-Wochen-Einkauf für eine Familie mit biologisch ausgewachsenem Nachwuchs, der neuerdings 24 Stunden in unmittelbarer Nähe zum heimischen Kühlschrank abhängt, mag ich mir lieber nicht vorstellen. Er wäre aber immernoch ein Witz gegen das, was von den Meiseneltern gefordert wird: Der Ornithologe Andrew Goslar rechnet, dass beide Eltern zusammen 6-7g Meisennahrung pro Tag und Jungtier verfüttern. Das hört sich wenig an, aber in Raupen bedeutet dass 10.000 Raupen, die ein einzelnes Paar innerhalb von drei Wochen finden und transportieren muss. Bezieht man das Gewicht der Nahrung auf das Gewicht der Eltern, käme man je nach Gelegegröße auf über 100 kg Lebensmittel, die ich täglich nach hause schaffen müsste – und zwar einzeln, denn bei den Meisen werden keine Futterpakete geschnürt. Was für eine Arbeit!

Blaumeise (Cyanistes caeruleus) füttert einen Ästling auf der Terrasse.

Gesunde Kinderernährung

Trotzdem sind die Meiseneltern auf eine optimale Nährstoffversorgung bedacht. So wie ich regelmäßig Fisch mit gesunden Omega-3-Fettsäuren auf den Speiseplan meiner Sprößling setze, schwenken die Meisen bei der Kinderernährung im Verlauf der Aufzucht auf Spinnen als Nahrung um, weil diese reichlich Taurin enthalten und den Kleinen bei der Gehirnentwicklung helfen. Eine Mikronährstoff-reiche Ernährung hält gesund, was äußerlich durch besonders leuchtende Gefiederfarben sichtbar wird – und die Chancen der Nachkommen auf dem Heiratsmarkt erhöht. 

Die Attraktivität von Blaumeisen wird übrigens nicht nur durch die von uns sichtbaren Farben bestimmt. Für unsere Augen sind bei den kleineren Blaumeisen Hahn und Henne ziemlich gleich. Das sehen die Meisen aber anders:  Gerade im Kopfbereich gibt es offenbar Muster , die nur im ultravioletten Spektrum sichtbar sind. So bunt und hübsch sie in unseren Augen auch sind – wir sehen mal wieder nur die Hälfte.

In den drei Wochen der Fütterung legen die Nestlinge der Kohlmeisen das 15-fache an Gewicht zu. Das ist viel mehr, als ein Menschenkind in den ersten 10 Jahren seines Lebens schafft.

Ein jähes Ende

Diese Kohlmeise (Parus major) flog direkt neben mir vor eine Glasscheibe und starb sofort danach.

Ob es hormongesteuerter Überschwang war, der eine „unserer“ Kohlmeisen das Leben kostet, weiß ich nicht. Jedenfalls flog sie direkt neben mir vor eine Fensterscheibe unseres Wohnzimmers. Die gelbe Brust hob sich noch einige Male. Ich nahm den Vogel vorsichtig in die Hände, weil ich einmal gelesen hatte, schockierten Kollisionsopfern könne es helfen, warm gehalten zu werden. Sekunden später schlossen sich ihre Augen und das Vögelchen starb.

Zerbrechliches Leben

Ich hielt sie noch eine Weile traurig und ein wenig schuldbewusst fest – Fensterscheiben sind im Meisenkosmos eben nicht vorgesehen. Mit den Kindern betrachtete ich den kleinen, noch warmen Körper und die pechschwarzen, glänzenden Knopfaugen. Der Bruststrich war recht dünn und unterbrochen, das Gelb der Federn eher blass- ich denke, wir hatten ein Weibchen vor uns. Die Sechsjährige fragte besorgt, ob das Vögelchen schon Babys im Nest haben könnte. Ich hoffe nicht. Alleinerziehende Meisenväter sind weniger erfolgreich, wenn sie versuchen, eine Brut allein durchzubringen, manchmal geben sie dann ganz auf. Sie können ihre Kinder auch nicht wärmen – dazu fehlt ihnen der Brutfleck, eine federlose Stelle an der Brust.

Das Amselnest in unserer Efeuhecke war plötzlich leer. Einen Tag zuvor hatte ich im Vorbeigehen noch leises Fiepen gehört. Offenbar hat ein Räuber die Kleinen gefunden. Man fühlt mit den fleißigen Eltern.

Der ewige Kreis

Eine Entsorgung in der Biotonne brachte ich nicht übers Herz, und so ließ ich den flaumweichen Körper im wilden Gestrüpp hinter der Gartenhütte in einem Laubbett zurück – bestimmt finden sich bald Gartenbewohner, denen dieser Unfalltod nützt. Ihr Partner wird keine Zeit verlieren. Meisen werden im Durschnitt nur wenige Jahre alt und haben keine Brutsaison zu verschwenden, wenn sie ihr Erbgut weitergeben möchten. Wahrscheinlich singt er in dem vielstimmigen Konzert rund um unser Haus schon für eine neue Angebetete.

Während dessen sterben seit etwa Mitte März in verschiedenen Teilen Deutschlands ungewöhnliche viele Blaumeisen an einer ansteckenden Krankheit, die ebenfalls Lungenentzündungen hervorruft. Der Erreger ist allerdings ein Bakterium namens Suttonella ornithocola und für Menschen ungefährlich. Der NABU bittet, kranke oder tote Blaumeisen zu melden. Wer so etwas beobachtet, soll seine Garten-Regierungsverantwortung wahrnehmen und sofort Maßnahmen des Social-Distancing einleiten: Futterstellen und Tränken abräumen und warten, was die Forscher herausfinden.  In Seuchenbekämpfung sind wir ja jetzt Experten.

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